Eine unfreiwillige Kindheit in Vilsbiburg

Das St. Johannes-Heim war einst Brennpunkt unterschiedlicher Kinderschicksale

Vilsbiburg. In der neuen Museumsschrift zur Sonderausstellung ?Kindheit in Vilsbiburg? beschreibt unter diesem Titel der aus der Ukraine stammende Albert Sobolew einen kleinen Lebensabschnitt seines bewegten Lebens, den er unfreiwillig in Vilsbiburg verbrachte. 1935 in Smolensk geboren, gelangte er um 1942 mit seiner als Ostarbeiterin zwangsverpflichteten Mutter Paulina nach Görlitz. Der Vater Mischar war 1941 am Fluss Neman (Memel) im Baltikum gefallen. Aus nicht bekannten Gründen verhaftete 1944 die Gestapo Alberts Mutter, ihren weiteren Verbleib konnte der Sohn erst  im Jahr 2009 klären. Sie war in das Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert worden, wo sie ohne nähere Angaben laut Eintrag im KZ-Gedenkbuch verstorben ist.

Nach einer Odyssee wurde Albert im Dezember 1944 in die Evangelische Diakonissenanstalt in Görlitz aufgenommen. Doch bereits im Februar 1945 musste das Kinderheim vor den heranrückenden russischen Truppen geräumt und in einer fast eine Woche dauernden Zugreise nach Vilsbiburg evakuiert werden. So stand man vor der schwierigen Aufgabe über 70 Kinder aus dem Heim in Görlitz und dem nahen Kleinbiesnitz und zusätzlich 37 Kinder aus dem Evangelischen. Diakonissenhaus Saalberg in Niederschlesien im Vilsbiburger St. Johannesheim unterzubringen. Das Heim unterstand seit 1940 der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt).

Für den Zögling aus der Ukraine begann nun ein völlig neues Leben. Er besuchte mit den deutschen Kindern und weiteren aus Russland, Polen und der Tschechoslowakei die erste Klasse der hiesigen Volksschule, in der er sich schnell mit der deutschen Sprache vertraut machte. Und wie er bemerkte, hatte er bald seine Muttersprache verloren. In dieser Schule bekam er das erste Mal die Note Eins. Völlig neu für ihn war, dass man auf einer Schiefertafel schreiben und das Geschriebene wieder problemlos entfernen konnte. Er lernte mit den Mitschülern Kirchengesang, besuchte ?eine kleine Kirche? (Spitalkirche?), wo er manchmal die Orgeltasten berühren durfte. Auch an die Fleißzetterl für besonderen Eifer und gute Leistungen erinnerte er sich. Woran er sich besonders erinnerte, war ein ?eigenartiges? Kleidungsstück, ?eine kurze schwere Hose aus dickem Leder genäht, über die Schultern führten Riemen, die die Hose hielten. An manchen Stellen drückte diese schwere Hose?. Es war natürlich die damals obligatorische und strapazierfähige Lederhose.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Albert Sobolews Erinnerungen an seine eineinhalbjährige Vilsbiburger Zeit, die er Museumsleiter Lambert Grasmann in kyrillischer Schrift 1999 übermittelt hatte. Am 26. Juni 1946 wurde er an eine Organisation der UNRRA (Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen) in Ingolstadt überstellt, die die Rückführung in die Heimat organisierte. Die archivalischen Belege zur Geschichte des St. Johannes-Kinderheims ab 1864 und damit auch die zeitgeschichtlichen Dokumente der 1940er Jahre lagern im Vilsbiburger Pfarrarchiv. Die Museumsschrift bietet mit weiteren dreizehn von etwa 1900 bis um 1960 reichenden Geschichten einen wichtigen Beitrag zur Vilsbiburger Zeitgeschichte. So ist auch der weithin unbekannte Aufenthalt von über 30 halb- und Vollwaisen Mädchen aus Nord- und Südtirol sowie Italien beschrieben, die von 1941 bis 1945 unter der Aufsicht von Betreuern der NSV (Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt) die Zeit im St. Johannesheim verbrachten. Doch dazu später mehr.
Lambert Grasmann

Das in N.S.V. Jugendheim umgetaufte St. Johannes Kinderheim, Aufnahme 1940/1941
Familie Sobolew. Vater Mischar, ein russischer Offizier, Mutter Paulina Sobolewa, Sohn Albert, 1939 (Fotos Archiv Heimatverein).