Der Stahlhelm rettete sein Leben

Die Odyssee des Vilsbiburgers Franz Wurm in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs
Der Realschullehrer Konrad Fischer hat in der kürzlich neu erschienenen „Vilsbiburger Museumsschrift Nr.10", der Begleitbroschüre zur heurigen Sonderausstellung im Vilsbiburger Heimatmuseum („Das kriegerische 20. Jahrhundert: Von der ersten deutschen Republik 1918 über die Diktatur zum Neubeginn 1948…") unter anderem der Jugend im Dritten Reich einen kurzen Abschnitt gewidmet. Unter der Überschrift „Die Jugend mit einbinden" schreibt er: „Um einen bleibenden Erfolg des NS-Staates zu sichern, musste sich Hitler in erster Linie an die Jugend als der Trägerin des künftigen Staates wenden. Dabei nutzte er die jugendliche Begeisterungsfähigkeit bedenkenlos aus, indem er den Sport zum Beispiel in den Dienst der vormilitärischen Ausbildung stellte und mit dein Nationalstolz zugleich Hass gegen fremde Völker und Rassen weckte; ebenso entwertete er Kameradschaft und Gefolgstreue zu blindem Gehorsam nach der Parole ‚Führer befiehl, wir folgen Dir!‘
NS-Organisationen banden Ju­gendliche an das Regime: mit zehn Jahren über das Deutsche Jungvolk/ Jungmädel, mit 14 Jahren über die Hitlerjugend (HJ) und den Bund Deutscher Mädel (BDM). Für Männer ab 18 Jahren gab es ein Jahr Reichsarbeitsdienst (RAD), danach zwei Jahre Wehrdienst."
Auch der Vilsbiburger Franz Wurm (geboren 1925) durchlief in seiner Jugend diese Stationen. Nachdem er in seiner Heimat keine Lehrstelle bekommen konnte, verschlug es ihn nach Posen im heuti­gen Polen, wo er den Beruf des Werkzeugmachers erlernte. Von dort aus hatte man ihn im Alter von 18 Jahren zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen und einer Flugab­wehreinheit (Flak) zugeteilt. 1945 befand sich Wurm als Geschützführer einer Flak-Geschützes (10,5 Zentimeter) bei einer der drei ortsfesten Großbatterien mit je vier Geschützen in der Nähe des Flugplatzes Aspern bei Wien. Am 12. April, so schreibt er in seinen Erin^ nerungen, war er einem Spähtrupp zugeteilt, um die Nähe der anrückenden russischen Truppen zu erkunden. Nach der Feststellung, dass diese nur mehr einige 100 Meter von ihrer Stellung entfernt waren, trat der Trupp eiligst den Rückzug an. Bei den Rückwärtsbewegungen schoss ein russischer Scharfschütze Franz Wurm durch den Stahlhelm in den Hinterkopf. Bewusstlos geworden, schleppten ihn seine Kameraden zur Flakstellung zurück; von hier aus überstellte man ihn mit dem Sanka zum nahe gelegenen Verbandsplatz Breitenlee.
Am Tag darauf wurde er in einem Lazarettzug in einer dreitägigen Fahrt      nach Karlsbad transportiert, wo in mehreren Zügen bereits über 3000 Verwundete ihres Schicksals harrten. In einem mit Stroh ausgelegten, an einen Personenzug angehängten Viehwaggon geschah die Überführung mit 16 Schwerverletzten zunächst nach Prag, um dort notwendige Operationen durchzuführen. Doch die Fahrt mit den Schwerverletzten ging weiter, wo man am Tag darauf, dem 17 April, in einer als Reserve-Lazarett umfunktionierten Turnhalle in Tabor landete.
Das im Besitz von Franz Wurm befindliche, am 17. April angelegte vierseitige Krankenblatt berichtet am 29. April, dass mit einer Pinzette der Mantel eines russischen Infante­riegeschosses aus seiner Kopfwunde entfernt wurde. Das mit deutscher Gründlichkeit bis zum 18. Mai von deutschen Ärzten und Sanitätsper–sonal geführte Krankenblatt nennt alle Versorgungsleistungen und medikamentösen Behandlungen, die an Franz Wurm, durchgeführt wurden. Nachdem der Geschossmantel entfernt worden war, verschlimmerte sich der Zustand Wurms zusehends, worauf man am 7. Mai eine Röntgenaufnahme (auch diese ist im Besitz Wurms) veranlasste, Tags darauf ging es mit einer Luftwaffeneinheit, die Russen waren im An­marsch, gegen Westen, wo die Einheit bei Strakonice in amerikanische Gefangenschaft geriet. Da keine Abtransportmöglichkeit bestand, wurde am 16. Mai, also erst 34 Tage nach der Verwundung, eine Notoperation auf freiem Feld durchgeführt, wobei die auf einer Röntgenaufnahme sichtbaren Knochen- und Metall­splitter sowie ein Hirnabszess entfernt wurden.
Die Dramatik dieses Eingriffs hat der deutsche Arzt in 37 Schreibmaschinenzeilen auf dem Krankenblatt dokumentiert. Am Tag darauf waren die Amerikaner jedoch „verschwunden", man war den Russen ausgeliefert. Mit drei weiteren Schwerverwundeten in einen Sanka verfrachtet, versuchte dieser am 18. Mai Richtung Westen zu fahren, wurde jedoch von einem russischen Offizier gestoppt. Nach dessen Fahrzeugkontrolle ließ er den Sanka umdrehen, begleitete diesen jedoch selber bis zu dem in der „Benesch-Schule" in Pisek untergebrachten Reserve-Lazarett.
Hier kam es zu einem Zusammentreffen mit dem Offizier und früheren Redakteur beim Vilsbiburger Anzeiger, Anton Feistle, der sich dann besonders um Franz Wurm sorgte und ihn zum Beispiel mit Sonderrationen Brot bedachte. Übrigens wurde Feistle nach Rückkehr aus der Gefangen­schaft zum ersten, von der amerikanischen Besatzungsmacht eingesetzten Bürgermeister Vilsbiburgs ernannt.
Nachdem das Lazarett in der „Benesch-Schule" in Pisek geräumt werden musste, wurden die Verwundeten, darunter Franz Wurm, am 15.Juni in die Krankensarnmelstelle nach Pilsen verlegt und von dort in das amerikanische Gefangenenlager „Wiesengrund" überstellt. Am 13. Juli schlug die Stunde der Freiheit. Nach einer Entlausungsaktion wurde Franz Wurm der Entlassungsschein ausgestellt. Die letzten Stationen waren eine Fahrt mit einem amerikanischen Lkw bis Regensburg, die Weiterfahrt mit dem Güterzug nach Plattling – die direkte Strecke nach Landshut war unpassierbar – und die Fahrt auf dem Tender einer Lokomotive von Plattling bis kurz vor Landshut. Der dortige Bahnhof war total zerstört. Vom Hofberg in Landshut aus konnte er mit dem von Herrn Thoma aus Gei-senhausen gesteuerten Bus nach Vilsbiburg fahren In der Frauensattlinger Straße, beim Anwesen Schandl, traf er seine Mutter. Sie war auf dem Weg zur Bergkirche. Es war der 13. Juli – Fatimatag. Feistle war einen Tag früher in Vilsbiburg eingetroffen.
Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Im Oktober 1945 besuchten die Kameraden von Franz Wurrn, Karl Kellner und Willy Matousek, die ehemalige Flak-Stellung in Breitenlee, ,wo die vier Geschütze am 13. April 1945 gesprengt worden waren. Unter den Trümmern mit Gasmasken, Brotbeutel etc. fanden sie einen Stahlhelm mit Einschussloch, den sie dem „Langen", so der Spitzname Wurms, zuordnen konnten. Doch erst 1955, also zehn Jahre später, konnte dieser am 15. Mai in Wien den mit seinem Namen bezeichneten Helm von seinen Kame­raden in Empfang nehmen. Der Stahlhelm hatte ihm das Leben gerettet. Er befindet sich zur Zeit mit-weiteren Dokumenten wie Krankenblatt, Verschubpapieren, Erken­nungsmarke und Entlassungsschein in der Sonderausstellung im Vilsbiburger Heimatmuseum.
Lambert Grasman
 
Veröffentlicht am Samstag, den 5. Juli 2008 in der Vilsbiburger Zeitung