Turngasse aus der Stadt verschwunden

Auch Straßen und Plätze verändern ihr Gesicht
Eine Stadt, obwohl aus Beton, Teer und Ziegeln fest gefügt, stellt sich doch als höchst lebendiges Wesen dar. Die Menschen in ihr basteln fast jeden Tag an ihrem Gesicht herum, zuweilen zum Vorteil, in manchen Fällen aber auch zum Nachteil. Mal wird eine alte Apotheke abgebrochen damit sich ein Geldinstitut ausbreiten kann, dann wieder baut man um die Kirche herum eine neue Mauer und oftmals werden ganze Straßenzüge verändert. Dabei handelt es sich meist um die die gravierendsten Eingriffe in ein Stadtbild. Lange Diskussionen gehen voraus und heftige Unmutsäußerungen sind die Folge. Nach etwa sechs Monaten haben sich die Menschen in der Regel an die neue Situation gewöhnt und einige Jahre später haben sie den Eindruck, es wäre noch nie anders gewesen. So war es wohl auch bei der Vilsbiburger Turngasse, die nicht nur umgestaltet, sondern völlig aus der Straßenverzeichnis getilgt wurde. Benannt wurde sie nach der im Jahr 1885 erbauten Jahnturnhalle, an welcher der Weg vorbeiführte. Auch diese Sportstätte existiert schon lange nicht mehr.

 

Wer vor rund 60 Jahren vom Stadtzentrum in Richtung Frontenhausen fahren wollte, gelangte gleich nach dem Textilhaus Brandl in Höhe der Wagnerwerkstätte Bittl in die Kirchstraße. Vorbei am Pelzgeschäft Königbauer, der Schreibwarenhandlung Eiermann, der Bäckerei Kleingütl, der Metzgerei Jagenlauf und dem Amtsgericht gelangte man vor dem Anwesen Liebl zu einer scharfen Linkskurve und bewegte sich in Richtung Pfarrkirche. An den getrennten Schulen für Knaben und Mädchen sowie der Schreinerei Wittmann ging es vorbei. Kurz vor dem Rettenbach kurvte man bei der Kramerei von Maria Ecker erneut nach links und befand sich in etwa auf der heutigen Frontenhausener Straße, die jedoch nach wenigen hundert Meters das Stadtgebiet verließ und in die Ortschaft Goben der Gemeinde Seyboldsdorf eintrat.

 

Die Straße bestand nur aus einer aufgekiesten Oberfläche und war von offenen Wassergräben gesäumt, in welche die Abwasserleitungen der Anwohner mündeten. Wenn die amerikanischen Panzerkolonnen durch die Stadt ratterten und jedes einzelne Kettenfahrzeug in der engen Kurve beim Liebl fast auf der Stelle nach links drehte, spitzten die Kieselsteine ordentlich an die Bretterwand. Zurück blieben dann tiefe Mulden in der Straßenoberfläche. Wollten die Militärfahrzeuge in Richtung Süden fahren, mussten sie zwischen Benefiziatenhaus und Knabenschule erneut drehen, dieses Mal nach rechts, um das Vestbergerl hinunter zur Pfarrbrücke zu gelangen. Auch für den zivilen Verkehr war dies auf Dauer keine akzeptable Straßenführung. Vielleicht nach einem schweren Unfall, bei dem ein Lkw-Fahrer ums Leben kam, möglicherweise auch durch die Ansiedlung der Kammgarnspinnerei Seiler entschloss sich die Stadt, die Straßenführung radikal zu ändern. Das Liebl-Anwesen wurde teilweise abgebrochen und die Turngasse entlang der Bretterzäune aufgeweitet. Nachdem so ein fast schnurgerader Straßenzug entstanden war, widmete man diesen schon ab der Oberen Stadt zur Frontenhausener Straße um.

Noch ist der Straßenzug eine beschauliche Fußgängerzone. Aus der Turngasse blickt man am verbretterten Liebl-Anwesen vorbei stadteinwärts in die Kirchstraße, die heutige Frontenhausener Straße. (Foto: Archiv Heimatmuseum Vilsbiburg)